21. Oktober 2012

FILM IM LARVENSTADIUM

Bericht vom 9. Internationalen KinoKabaret Berlin 2012

von Dave Lojek – Festivaldirektor


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Poster KinoBerlino 2012
Jede Generation findet und erfindet ihre Ausdrucksformen mit audiovisuellen Künsten. Althergebrachtes kehrt sich um. Grundlegendes wird tradiert und überdauert technische Neuerungen. Geschichtenerzählen gehört zur ältesten Form der Kommunikation überhaupt, egal ob man dem Schamanen am Lagerfeuer oder dem Dichter auf der Buchmesse lauscht. Erodiert das  Talent zum konsistenten Erfinden und Vermitteln von Geschichten? Ohne Plot  und Struktur, bleibt jede Spielerei mit Technik, Menschen und Kostümen eine Fingerübung. Aber üben müssen wir ununterbrochen.

Für junge Filmbegeisterte zwischen 18 und Mitte 40 hat sich seit 1999 die internationale KINO-Bewegung zu einem Hort freier Kreativität gemausert, die Konkurrenz mit Kooperation ersetzt, Leistungsdruck und Konformität mit spielerischer Experimentierfreude und Offenheit vertauscht. Das Aneinanderreihen von Bildern zu Szenen, Szenen zu Geschichten, erfrischt den Geist und bildet eine Oase im medialen Alltagstrott. Wir machen uns mehr Probleme, als wir bewältigen können, aber wir bleiben wachsam, netzwerkeln unentwegt, inspirieren Tausende.
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Sybill Montet

In so genannten KinoKabarets trifft man sich zum gemeinsamen Drehen, denn Film ist für uns eine Gruppenarbeit. Die siebente Kunst vereint alle anderen in sich und bleibt zeitlebens eine Herausforderung für jeden, der sich damit befasst. Lob und Kritik aus der unmittelbaren Zielgruppe sorgen für die emotionale Achterbahnfahrt im Künstlerleben.

Angehende Regisseure oder Amateurfilmer treffen auf Schauspieler, Möchtegerne oder Naturtalente aus anderen Ländern und erkennen in der Praxis, dass ihre Drehbücher manchmal zu kulturspezifisch und dialoglastig sind. Also improvisieren sie und wundern sich über die pure Kraft des Zufalls. Kameraleute und Fotografen mit den unterschiedlichsten Erfahrungswerten verabreden sich mit Cuttern und Musikern. Bastler und Maskenbildner gestalten Kostüme und Gesichter. Alle bringen ihre eigene Technik mit und borgen sie sich untereinander. Verrückt? Bestimmt, euer Ehren! Aber es macht eine Mordsgaudi.

Die Regeln sind denkbar simpel:  „Do well with nothing, do better with little and do it right now!“
Soll heißen: Erschaffe etwas Gutes aus dem Nichts, mache es besser mit ganz wenigen Mitteln, und tue es jetzt sofort!
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Angela Jehring als Engel
Das klappt besonders gut mit digitalen Spiegelreflexkameras und Computern, Richtmikros und ein wenig Licht. Man gibt sich zwei bis drei Tage Zeit, um Kurzfilme von der Idee bis zur Kinoleinwand zu bringen. Das macht süchtig, denn man wird nicht von Versagensängsten blockiert, da wir bewusst auf Preise, Jurys und Wettbewerbe verzichten. Als originäre Filmwerkstatt produziert das KinoKabaret sehr viele Übungen und manche Überraschung. Wir sind oft der praktische Erstkontakt mit den Herausforderungen des Mediums überhaupt. Einige studierten Film, nachdem sie beim KinoKabaret Blut geleckt hatten.

Wie entsteht dieser Sog? Am Anfang stehen die Liebe zum Filmen und der Wille, eine neue Kino-Zelle in diesem bereits 70 Städte weltweit umfassenden Netzwerk zu gründen. Weit mehr als 5000 Aktive tummeln sich darin und bereisen die befreundeten Gruppen, ganz ähnlich übrigens den BDFA- und UNICA Festivals.

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Produktionstreffen
Beseelte Teilnehmer aus Italien, Georgien und Köln sprachen mich in Berlin an und bekamen die praktische Anleitung zum Aufbau einer neuen Zelle. Auch Warschau, Cisinau, Prizren, Prag und Barcelona eröffneten letztes Jahr ihre Gruppen; Dublin, Köln und weitere Städte werden folgen. Viral nennen wir die Verbreitung des Konzeptes.


Wie macht man ein KinoKabaret? Ein kleines Team organisationsbegabter Filmer veranstaltet monatliche Kinoabende in ihrer Stadt und lockt freie Filmschaffende an. Sagen wir in Berlin, wo es über 80 Filmfestivals pro Jahr gibt. Man findet einen Termin für das jährliche KinoKabaret und benachrichtigt auf Flyern und im Internet sowohl die direkte Zielgruppe als auch einige Magazine und andere Multiplikatoren. Das Team besorgt sich einen Veranstaltungsort und ein Kino für die Vorführungen. Soweit dürfte Filmfestivalorganisation bekannt sein.
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Märchendreh
In unserem Falle haben wir mit dem Jugendclub ELOK und dem Kino Moviemento die perfekten Partner gefunden und ermöglichen für die Teilnehmer sehr produktive und vor allem lehrreiche jährliche Festivals mit lecker Essen, Technikausleihe und Tonstudio.


Man darf davon ausgehen, dass nicht jeder Film oscarreif wird, den man ihn so großer Eile ohne Budget oder Verwertungsinteresse zusammenfriemelt. Das ist aber auch gar nicht der Anspruch. Zum Erproben wurde das KinoKabaret erfunden.
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Vorstellung im Kino Moviemento
Anstatt wie Filmstudenten im Jahr vielleicht ein oder zwei Kurzfilme zu produzieren, die dann nur auf wenigen Festivals zu sehen sind, schaffen einige „Kinoïten“ spielend zehn pro Jahr, die dank des großen Netzwerks manchmal beachtliche Resonanz erfahren. Qualität statt Quantität? Wir wissen nur zu gut um die extrem geringe Aufmerksamkeitsspanne des Zielpublikums im Youtube-Zeitalter. Aber Qualität ist nicht ausgeschlossen. Die traditionellen offenen Fernsehkanäle  wie ALEX TV bespielen wir mehr aus Spaß an der Freude oder ignorieren den kommerziellen Film schlichtweg ganz. Unser Milieu zieht so viele Medienmenschen an, dass wir die Kapazitätsgrenzen überschreiten.

Ambitionen haben wir, ja doch! Mal einen Dreh ordentlich vorbereiten, oder Zeit zum Proben mit den Schauspielern finden. Mal was Zeigbares zaubern oder Fördergelder absahnen. Aber wir igeln uns nicht permanent in der Wunschvorstellung ein. Das macht doch depressiv. Die beste Heilung dafür ist unsere Produktivität. Wir drehen uns schneiden bis der Arzt kommt!


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Gruppenbild bei Eröffnung
Für zehn Tage im September versammelten sich ca. 200 Teilnehmer bei uns und erschufen 120 Filme, die frisch im Kino Moviemento liefen. Man stelle sich die Aufregung, den Schlafmangel und die Erschöpfung vor. Adrenalin pur. Ein digitaler Extremsport für manche, die nächtelang an ihrem Material schneiden, und ganz blass werden, wenn der Film im Kino nicht sauber läuft.

Die Genres und Themen überspannen ein gewaltiges Spektrum. Avantgarde nannte man das früher. Für viele Geschmäcker findet sich Augenfutter. Von kleinen Gags über Poesie bis zur Superheldenpersiflage reicht die Schaffenskraft. Schönheitswahn wurde kritisiert, Menschen wurden erdrosselt, Werbung persifliert. Ernsthaftes ist Mangelware. Beliebte BDFA-Genres fehlen hingegen völlig. Die jungen Leute machen keine Reise-, Familien-, Folklore- oder Tierfilme. Zu wichtig ist vielen das Filmemachen, als dass sie es nur als Hobby verstehen würden. Solche engen Zuschreibungen finden viele obsolet. Hybris der Jugend.
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Ansturm auf Registrierung
Keiner hier lebt ausschließlich vom Filmen, was man bei Profis hingegen annimmt. Kaum einer fragt überhaupt danach, womit man sich finanziert. Wichtig ist uns das Hier und Jetzt. Auch der klassisch bedeutungsschwangere Studenten- oder Animationsfilm taucht beim KinoKabaret fast nicht auf. Es fehlt schlicht die Zeit dafür.

Wenigen vergönnte die Natur oder Erziehung das Regietalent, aber Kameras sind kinderleicht zu bedienen, wenn man Schulterstative ausleihen kann. Und ein Haufen spielbereiter Mimen drängelt sich ins Bild. Welche Teamkonstellation bringt das ergreifende oder belustigende Werk ins Kino? Wie kommt der Film außerhalb der eigenen Zielgruppe an?

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KinoLab (Schnittraum)
Wir üben uns statt auf den Geniestreich zu warten in Inszenierung oder Kunstfertigkeit mit Bild, Musik und Ton. Vieles hat kein echtes Drehbuch, wird aber trotzdem gedreht. Übermut und Ulk kommen dabei heraus. Einfach weil man Lust hat, weil man eine Idee konkretisieren oder mit Bildern provozieren will. Die Gruppendynamik erzeugt starke Identifikation und Gefühle der Zugehörigkeit.  Ausprobieren, justieren, weiterprobieren. Film im Larvenstadium. Ein Afrikaner bot von sich aus Schauspielübungen der Meissner-Technik an. Wir atmeten tief ein und aus, sahen uns lange in die Augen und ließen Emotionen fließen. Grandios!

Oft mag sich das Publikum fragen, wozu der einzelne Film gut sei, warum er überhaupt entstand. Die Regisseure bleiben uns die Antwort schuldig und lernen ihre eigenen Grenzen kennen, um sie bald zu erweitern. Sie begreifen, dass man sie nach Intentionen fragen und mit Geschmacksurteilen bewerfen wird. Schon flimmert aber der nächste Versuch über die Leinwand. Solche Vorstellungen dauern gut und gerne drei bis fünf Stunden.


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Filmabgabe im Kino
Im Trend lagen dieses Jahr verstärkt erotische Themen, was vielleicht and der großen Zahl Franzosen lag, die uns besuchte. Erstmalig tauchten 8mm-Filmer auf, die einen Duschraum in ein Labor verwandelten und vor ihren Kameras junge Wilde masturbieren ließen. Auch experimentelle Musikvideos erfreuten das Ohr, Dramen und Gewalt ließen uns zusammenzucken. Manch einer probte Interaktivität im Kino aus oder verweigerte sich künstlerisch. Die allermeisten verarbeiten ihre Mediensozialisation anhand eigener Präferenzen zu Hackfleisch, ignorieren Regeln der Kameraführung, Regie und des Schnitts. Sie drehen erst und denken später drüber nach. So ist der Rausch auch eine Sackgasse für Anspruchsvolle. Perfektionisten werden schlichtweg nicht rechtzeitig mit ihrem Projekt fertig und versprechen, es irgendwann zu schneiden. Manche übertreiben so sehr, dass sie sich beim Dreh verletzen oder vom Drehort verjagt werden. Das KinoKabaret stutzt Erwartungen zurecht.

Narratives nimmt mit 20 % traditionell eher eine Nische ein. Da hilft alles Mahnen wenig. Das Publikum muss da durch. Allerdings sitzen im Publikum zu 95% Teilnehmer der Veranstaltung, was natürlich jede Menge Applaus selbst für den Trash beschert.
 
Das KinoBerlino Team betreute die Veranstaltung wieder vorbildlich. Noch während des Workshops trat jemand der Organisation bei und leistete freiwillig Dienst im Büro und an der Bar. Allen gelten mein Dank und meine Hochachtung. Was machen wir zum 10. Jubiläum 2013? Für Vorschläge bin ich offen.
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Festivaldirektor Dave Lojek

Hier darf man gerne in unsere Arbeiten hineinschauen:
www.vimeo.com/groups/kinoberlino

KinoKabarets gibt es auch in Wien, Hamburg, Mainz, Dresden, Jena, Prag, Brüssel und vielen weiteren Städten in Mitteleuropa.  www.kinokabaret.org

Jeder Filmer ist willkommen, der sich daran beteiligen möchte. Traut Euch!

Fotos: Sophie Stallegger & Guglielmo Pinsone

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